Entwickler: RARE Publisher: Microsoft Genre: Action, Abenteuer, Piraten, Onlinemultiplayer Plattformen: PC, Xbox One Preis: ca. 69,99 Euro Offizielle Website: https://www.seaofthieves.com/de/
Kein Spiel für Landratten
Wenn wir an Piraten denken, dann kommen uns Schatzkarten, Kisten voll Gold, Rum, Kanonen, Säbel und – dank Disney – Captain Jack Sparrow in den Sinn. Kein Wunder also, dass Piraten – bereits vor Disney – über Jahrhunderte romantisiert wurden. Niemand Geringeres als Rare lässt uns in Sea of Thieves nun selbst zum Pirat werden. Also ihr Landratten, lichtet den Anker, hisst die Segel und volle Fahrt voraus!
Rare hat mit Sea of Thieves nichts Geringeres versprochen als den ambitioniertesten Titel, den sie jemals kreiert haben. Wem nun Golden Eye 007, Perfect Dark, Jet Force Gemini, Kameo, Killer Instinct und Banjo-Kazooie in den Sinn kommen, muss sich denken „Hey, die haben sich echt was vorgenommen“. Nach einer langen Zeit des Schweigens folgte im letzten Jahr eine Phase von Testsessions für Insider und anschließend Closed sowie Open Beta bis zum Release am 20. März 2018.
Zur finalen Fassung waren wir natürlich gespannt, was sich an dem Titel noch geändert hat. Vor allem der Kraken, die Skelettfestungen und die zwei weiteren Fraktionen ließen die Hoffnung aufkeimen, dass der Umfang sich zumindest merklich ausweitet. Diese Hoffnung wurde leider enttäuscht. Doch wie so vieles hat auch diese Medaille zwei Seiten.
Trotz des überschaubaren Umfangs sind die vorhandenen Funktionen solide und weitestgehend durchdacht. Die toll aussehenden Schiffe – von denen es nur zwei gibt. Die unterschiedlichen Waffen – von denen es nur vier gibt. Die spaßigen Quests – von denen es prinzipiell nur drei verschiedene gibt. Der spaßige Bosskampf gegen den Kraken – von dem es nur einen gibt. Der herausfordernde Raid, der im Prinzip immer gleich abläuft. Ihr merkt vielleicht schon, wo sich hier das Problem versteckt. Es ist nicht das tolle Animationssystem, denn das steht auf einem Level mit den herausragenden Lichteffekten, dem faszinierend realistischen Wellengang und der umwerfenden Stimmung. Es krankt beim Umfang, der eher an eine schmale Schaluppe als an die mächtige Galeone erinnert.
Eines müssen wir Sea of Thieves allerdings lassen: Das, was es kann, kann es gut. Da wären die vielen Details, wie das Auffangen der eigenen Kotze im Eimer um andere Spieler darin zu baden. Kreisende Seemöwen weisen uns auf versunkene Schiffwracks hin. Die Laternen des Schiffs könnt ihr nutzen, um andere Crews in die Irre zu locken oder euch bei Nacht bedeckt zu halten. Dazu gesellen sich die kooperativen Elemente wie die Segel, die zu zweit viel schneller in den Wind gedreht sind als alleine – bei einer Seeschlacht kann das richtige Navigieren mit dem Wind entscheidend sein. Auch der Anker ist im Team viel schneller eingeholt, und wenn einer die Löcher im Schiffsbauch stopft, können die Seeräuber am Deck konzentriert aus allen Rohren feuern. Ein weiteres schönes Teamelement: Bei der Galeone, sieht der Captain nicht, wohin er steuert. Deswegen braucht es immer einen Navigator, der den Kurs überprüft und die Augen nach möglichen Hindernissen offen hält. Derweil helfen die übrigen Gauner beim Ausrichten der Segel und sorgen für Musik oder kotzen einem unter Deck die Wand voll, weil sie viel zu viel Rum getrunken haben.
Ja, es ist nervig, wenn ihr ein Schiff samt Crew versenkt und es drei Minuten später wieder vor eurer Nase segelt, weil sie am nächsten Außenposten respawnen. Das dürfte aber die Art von Problem sein, die zeitnah behoben werden können. Abseits der Respawnproblematik geht es in den Kämpfen fair zu. Die Kämpfe gegeneinander sind einfach und zugleich herausfordernd. Jeder besitzt die gleichen Waffen, die gleichen Möglichkeiten und somit auch das gleiche Potenzial. Keine nervigen Upgrades die Waffen unfair stark machen. Wenn ihr euren Schatz an eine andere Mannschaft verliert, dann nur weil ihr schlechter organisiert seid und die Spielmechaniken nicht zu eurem Vorteil nutzt.
Wenn ihr eure Beute sicher zu einem der Außenposten bringt, winken euch Reputation und Gold. Letzteres investiert ihr in die Personalisierung, die am Charakter und dem Schiff stattfindet. Die Reputation bringt euch eurem Ziel der Piratenlegende näher. Obwohl es nur drei Fraktionsaufgaben gibt, werden diese mit steigenden Level immerhin komplexer und auch herausfordernder. Leider skaliert die Belohnung nicht immer mit, weswegen es passieren kann, dass ihr für eine Stufe 20 Aufgabe am Ende die gleiche Belohnung erhaltet wie für eine Stufe 5 Aufgabe.
Auch Piraten haben die Haare schön
Auf der anderen Seite wirkt die Personalisierung zumindest am eigenen Schiff, als sei sie in letzter Sekunde entstanden. Wieso zum Geier ist ein optisches Upgrade doppelt so teuer wie das andere, nur weil sich die Farbe ein wenig ändert? Formen bleiben beim Schiff immer gleich und viele Farben stehen nicht zur Auswahl. Dennoch kommt auch hier wieder der starke kooperative Aspekt des Spiels zum Tragen. Besitzt eines eurer Crewmitglieder besondere Segel und ihr selbst eine besondere Schiffsbemalung, könnt ihr beides für das Schiff eurer Crew nutzen. Bei der Optik der eigenen Piraten sieht es mit der Vielfalt besser aus. Leider sehen davon nur eure Kameraden etwas. Ihr selbst spielt schließlich im First-Person-Mode.
Das setzt voraus, dass ihr Kameraden habt. Sea of Thieves bietet grundsätzlich auch die Möglichkeit zu zweit oder gar alleine auf einer kleinen Schaluppe zu agieren. Rechnet aber nicht damit, viel zu erreichen. Das Schiff ist wendiger als eine große Galeone und auch schneller in der Fahrt gegen den Wind. Einer halbwegs erfahrenen Crew seid ihr trotzdem hoffnungslos unterlegen. Die hart erarbeitete Beute geht damit schneller flöten, als ihr gucken könnt. Das kann euch überall und jederzeit passieren, das ist der Reiz und auch die Herausforderung des Spiels. Ihr entscheidet selbst, was für eine Art von Pirat ihr seid und könnt anderen Crews niemals vertrauen.
Diese Idee der Konkurrenz begleitet das gesamte Spielerlebnis. Es ist spaßig gemeinsam mit einer anderen Crew die vielen Wellen einer Skelettfestung zu bezwingen, um sich am Ende den Schatz zu teilen. Ihr müsst aber jederzeit damit rechnen, dass euch der scheinbare Verbündete im nächsten Augenblick in den Rücken fällt. Kein Wunder also, dass das Fernrohr das Lieblingsutensil vieler Seefahrer ist. Es ist unabdingbar den Horizont nach Segeln abzusuchen. Während für Solospieler hier ein großer Frustfaktor verbogen liegt, kann es mit einer vollen Crew auf einer Galeone einen gewaltigen Reiz ausmachen. Das Erlebnis mit und gegen andere Spieler ist bei jedem Anlauf und jeder Spielsession anders, etwas, dass uns in der Form bisher kein Spiel geboten hat.
Wer nicht scharf darauf ist, in der Nacht mit erloschenen Laternen andere Schiffe zu jagen, der wird beim Umfang schnell an seine Grenzen stoßen. Es ist zu wenig, auf Schatzsuche zu gehen und zu hoffen wertvolle Beute zu finden, immer wieder gleich aussehende Skelettcrews zu töten oder Hühner zu fangen. Sicher, gemeinsam macht das mehr Spaß. Gemeinsam macht allerdings fast alles Spaß. Wenn es danach ginge, was gemeinsam Spaß macht, gäbe es keine Online-Videospiele und wir würden jeden Abend Karten spielen. Nichtsdestotrotz sind viele Elemente auf Zusammenarbeit mit eurer Crew ausgelegt. Das macht Sea of Thieves zum idealen Titel für einen Zockerabend mit Freunden – also doch kein Mau-Mau am Küchentisch. Allerdings setzt der Titel voraus, dass ihr in der Lage seid, euch eure eigenen Ziele zu setzen. Es gibt in dem Sinne keine Story die euch den Pfad weist. Eure Geschichte erzählt ihr selbst. Dank der mangelnden vertikalen Progression, könnt ihr diese auch jederzeit wieder fortsetzen. Spielerisch kann euch niemand abhängen.
Es bleibt zu hoffen, dass Rare mittelfristig auf die Wünsche der Spieler reagiert und Inhalte nachliefert. Vorschläge gibt es aus der Community zuhauf, von größeren Crews – denn die Galeone ist für vier Leute überdimensioniert – über ein mittelgroßes Schiff, alternative Schatzjagden, Wal und Haifischfang oder Würfel- und Trinkspiele. Bis dahin muss allerdings der Reiz des offenen Piratenabenteuers herhalten. Das wenige was Sea of Thieves bietet, ist qualitativ nicht von der Hand zu weisen. Es muss sich aber jeder die Frage stellen, ob der Titel der Piratenlegende verlockend genug ist, um Dutzende oder gar Hunderte Stunden auf See zu verbringen.
Mein Fazit:
Wollen wir ein Piratenabenteuer erleben, ist Sea of Thieves klasse, doch wollen wir viele Piratenabenteuer erleben, zeigen sich seine Schwächen. Der Titel begeistert mit einer tollen technischen Umsetzung, einem felsenfesten Fundament und mit einem Detailgrad, wie nur Rare ihn hinbekommen kann. Leider ist die Makroebene nicht so gut wie die Mikroebene des Spiels. So werden Solospieler ebenso wenig ihren Spaß haben, wie Leute die mit Spieler-gegen-Spieler-Kämpfen nichts anfangen können.
Nach 20 Stufen jeder Fraktion fragen wir uns, ob und wie wir die restlichen 30 Stufen zur Spitze und Piratenlegende absolvieren sollen. Denn von Skeletten haben wir erst einmal genug. Darum freuen wir uns auf die Erweiterungen für Sea of Thieves. Bis dahin werden wir wohl wieder Landratten. Doch das macht nichts, denn die See verliert nie ihre Faszination. Ob der Preis vom Spiel gerechtfertigt ist? Zum diesem Zeitpunkt leider nein. All das macht Sea of Thieves nicht zu einem schlechten Spiel, das zu behaupten wäre dem Spiel gegenüber nicht fair. Doch es ist momentan noch zu wenig Spiel.